Im Rahmen der Professionalisierung
der Wundversorgung an meinem derzeitigen Arbeitsplatz begannen eine Kollegin
und ich Mitte 2001 mit der Erstellung eines Wundmanagementsystems, das speziell
für die Einrichtung (Rehabilitationsklinik für körperlich und/ oder geistig
behinderte Menschen) zugeschnitten sein sollte.
Die Besonderheiten der
Wundversorgung ergeben sich bei uns im Haus vor allem aus...:
- der hohen Fluktuation
der Patienten durch mittelfristige Verweilzeiten ( 3 - 6 Wochen)
- der tlw. sehr schlechten
Compliance durch die Pat., aufgrund mittelschwerer bis schwerster geistiger
Behinderungen. Oft findet sich darüber hinaus kontraproduktives Verhalten
v.a. in Form von Manipulation an den Wundverbänden, aber auch aktiv selbstverletzendes
Verhalten.
- dem für diese Pat.
typischen Auftreten von vielfältigen Begleit- und Grunderkrankungen
- dem großen und
wachsenden Anteil von chronischen Wunden (ein Trend, der im Übrigen
der gesamtdeutschen Entwicklung entspricht)
Hieraus ergeben sich
vielfältige Problemstellungen und -lösungen:
- Gerade bei chronischen
Wunden ist ein Abschluss der Wundheilung innerhalb des Aufenthaltes unwahrscheinlich,
und das Pflegeziel "Pat. hat keine Wunde mehr" fällt damit als
Bewertungskriterium aus. Um jedoch die Qualität der Wundversorgung zu erhalten
oder zu verbessern ist somit ein Feedback über den Wundzustand am Ende des
Kuraufenthaltes nötig. Hierzu entwickelten wir parallel zur fortlaufenden
Wunddokumentation einen, an diese angepassten Fragebogen, um ein stationsübergreifendes
Feedback bei Entlassung des Pat. zu erhalten. Dieser umfasst sowohl die
Grunderkrankungen und den Heilungsverlauf beeinflussende Faktoren, als auch
die Versorgung mit den verschiedenen Wundtherapeutika. Besonderen Wert hat
hierbei auch die Beurteilung durch die damit arbeitenden Pflegekräfte hinsichtlich
der Verwendbarkeit und des Heilungsverlaufes. Durch die zentrale Auswertung
dieser Informationen sollte eine klare Kosten-Nutzen-Abwägung möglich sein,
in die endlich auch die Meinung der Pflegekräfte einbezogen wird, die tagtäglich
mit den Produkten arbeiten und die ihnen zur Verfügung stehende Arbeitszeit
planen müssen!
- Eine moderne Wundversorgung
muss an einer schlechten Compliance durch den Pat scheitern. Lösen die Pat.
z.B. die Hydrokolloidverbände selber ab, hilft auch die theoretische Verweildauer
von ca. 7 Tagen nicht weiter. Bei jeder Manipulation werden sicherlich neue
Keime in die Wundregion eingebracht und die pH-Wertabsenkung durch diesen
speziellen Verbandtyp kann nicht erreicht werden. Kann der Verband dann
nicht zusätzlich so fixiert werden, dass seine besonderen Eigenschaften
erhalten bleiben, muss man einen anderen Verbandtyp auswählen, der von den
Wundvorraussetzungen eventuell nur suboptimale Ergebnisse erwarten lässt,
jedoch für die Gesamtheit " spezieller Pat. mit spezieller Wunde"
besser geeignet ist. Da aber die Compliance keine Konstante ist und sich
von Tag zu Tag ändern kann, sollte auch tgl. neu dokumentiert werden, wie
sich der Pat. verhält. So kann jederzeit nachvollzogen werden, ob das Stationsteam
in angemessener Weise auf Veränderungen reagiert hat. Natürlich kann
man jeden Tag dokumentieren "Pat. löst den Wundverband erneut selber
ab" und befindet sich dann rechtlich auf der sicheren Seite. Aber das
Ziel ist und bleibt die Förderung der Wundheilung und benötigt Flexibilität. Oft
sind Pat. nach einer Eingewöhnungsphase weitaus kooperativer und reagieren
durch zugewonnenes Vertrauen vernünftiger oder aber die Mitarbeiter verstehen
das Verhalten der Pat. besser. Vielleicht kann im weiteren Verlauf wieder
zur eigentlich besseren Wundversorgung zurückgekehrt werden!
- Gerade bei Pat. mit
Behinderungen liegt im Alltag eine mehr oder weniger konsequente Betreuung
durch Angehörige oder Fachpersonal vor, so dass man durch diese eine ausführliche,
adäquate Anamnese erhalten kann. Diese erlaubt dann auch bei langjährigen,
chronischen Wunden einen Ausschluss von eben jenen Therapieversuchen, die
im Vorfeld schon erfolglos verlaufen waren. Aber auch Heilungsverzögerungen
durch klassische Pflegefehler, wie z.B. die Verwendung von Sitzringen bei
Dekubitalulzera oder zu große Lagerungsintervalle werden nachvollziehbar
und können angegangen werden. Daher enthält die Wundanamnese auch mittlerweile
nicht mehr akzeptierte Pflegemaßnahmen, um die Ursachenfindung zu vereinfachen.
- Die Beurteilung der
Wunde erfolgt im Alltag meist anhand der Grundfläche und der Wundtiefe in
cm, wobei beide Werte selten genau gemessen, sondern eher anhand von Anhaltspunkten
geschätzt werden! Dabei wird aber außer Acht gelassen, dass gerade die genaue
Angabe der Wundtiefe eigentlich nichts über die Bedeutung für den Pat. aussagt.
Bei einem sehr adipösen Pat. mit ausgedehntem Unterhautfettgewebe stellt
eine 0,5 cm tiefe Wunde eine nicht annähernd so große Gefahr dar wie für
einen kachektischen Pat., bei dem dann wahrscheinlich schon Muskelgewebe
in Leidenschaft gezogen und das Knochengewebe stark gefährdet ist. Daher
scheint es viel sinnvoller, zu dokumentieren, welche Strukturen nun tatsächlich
durch die Tiefe der Wunde betroffen sind. Daher verlassen sich sowohl Wundanamnese
als auch Wunddokumentation auf folgende Einteilung nach der tiefsten,
betroffenen Gewebeschicht:
- Epidermis und Dermis
- Subcutis
- Faszie
- Sehnen und Knochen
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- Insgesamt erhält man
durch diese Wundanamnese und Dokumentation eine Fülle an Informationen zum
Status der Wunde:
- Wundtiefe (wie
oben beschrieben)
- Die Wundlokalisation
(durch das Einzeichnen in die Umrisszeichnungen der Wundanamnese wird
die Bedeutung für die Durchblutungssituation und die Gefährdung für
die umliegenden Strukturen deutlich)
- die Wundart (auslösender
Faktor)
- die Gefährdung
des Pat. für Dekubitalgeschwüre (je nach Lage der Wunde ist diese
für die Bewertung der Heilungsfähigkeit der Wunde von großer Bedeutung)
- die genaue Angabe
der Wundfläche (die schließlich auch der genauen Festlegung der zusätzlich
zuzuführenden Kohlenhydrat- und Eiweißmenge dient)
- Zieht man nun die standardmäßig
bei der Aufnahme festgestellten Parameter Körpergröße und Gewicht
(sowie dem daraus resultierenden Body-Mass-Index) hinzu, sollte auch noch
nach Jahren nur anhand der schriftlichen Dokumentation gut belegbar sein,
welche Bedeutung und Gefahr von der Wunde für den Pat. ausgingen und welche
Heilungschancen bestanden! Dazu trägt natürlich auch die v.a. aus rechtlichen
Gesichtspunkten regelmäßig durchzuführende fotografische Dokumentation bei.
Hierbei hat sich ein Intervall von 3 Tagen bei konventioneller Wundversorgung
bewährt, bzw. sollte bei hydrokolloiden Verbänden über diesen Zeitraum
hinausgehend bei jedem nötigen Verbandswechsel ein Foto erstellt werden.
Ebenso ist jede gravierende Veränderung der Wunde sofort per Foto festzuhalten!
- Die Belegung des Wundzustandes
scheint in dieser Dokumentation zunächst etwas oberflächlich, soll aber
letztlich nur eine Grundbeschreibung der Wunde liefern, aus der sich die
elementaren Handlungsschritte ableiten lassen. Schriftliche Dokumentationen
wie "leichte Wundinfektion" oder "die Wunde sondert grünliches,
streng riechendes Sekret ab" klingen lapidar bis dramatisch, aber implizieren
genau die gleichen Maßnahmen wie die Dokumentation "Infektionszeichen
sichtbar" : der zuständige Arzt muss informiert und die Behandlung
eventuell anhand eines Abstriches und einer Keimbestimmung mit Antibiogramm
verfeinert werden (die lokale, v.a. unspezifische Wundantibiose wird heutzutage
nicht mehr empfohlen). Natürlich sollten weiterhin die Besonderheiten
wie Sekretionsfarbe und Geruch etc. dokumentiert werden, dieses kann aber
in kurzgefassten Worten in der üblichen Form geschehen. Eine examinierte
Pflegekraft sollte in der Lage sein, eine Wundinfektion festzustellen, ohne
erst in der Dokumentation die Merkmale für diese erläutern zu müssen. Wichtig
bleibt daher: Die Pflegekraft, die durch ihr Fachwissen gefährliche / bemerkenswerte
Veränderungen im Heilungsverlauf feststellt, dokumentiert diese und leitet
die erforderlichen Schritte ein. Der Arzt selbst muss in seiner Dokumentation
dann generell noch mal die Gründe für seine Therapieänderung darstellen,
so dass die Dokumentation daher lückenlos und rückverfolgbar sein sollte.
- Da eine Wunde meist
nicht nur einen Zustand hat, sondern vom Rand her in das Wundzentrum hinein
verschiedene Heilungszonen durchläuft, sind hier Mehrfachnennungen möglich.
Auch eine Wundinfektion muss nicht den vollkommenen Stillstand der Heilung
bedeuten und kann in einzelnen Bereichen Granulation ermöglichen.
- Die Beurteilung der
Tendenz
in der fortlaufenden Wunddokumentation verlangt das Einbringen der eigenen
Erfahrung und des Wissens durch die Pflegekraft. Auch sie sollte im
Interesse des Pat. beurteilen, ob die derzeitige Wundbehandlung in Anbetracht
der vorliegenden Rahmenbedingungen und aller bei der täglichen Dokumentation erhobenen
Parameter zu einer Verbesserung oder Verschlechterung der Wunde führen.
Rückblickend sollten auch die Beobachtungen der vergangenen Tage mit einbezogen
werden, da die Wundheilung physiologisch nicht jeden Tag gleich gut oder
schlecht abläuft. Die Tendenz ist somit die Summe der Erkenntnisse
eines Beobachtungszeitraumes, die optimalerweise von einer Pflegekraft (z.B.
über eine Dienstwoche hinweg) ausgewertet wird. Auch wenn die Wunde
keinerlei Veränderung mit sich bringt, bleibt zu überlegen, ob nicht eventuell
eine andere Wundversorgung umgesetzt werden sollte.
- Bewertet die Pflegekraft
mehrere Wundparameter negativ, tendenziell geht sie aber von einer Verbesserung
der Wundsituation aus, muss sie dieses auf herkömmlichem Weg gut begründen.
Das ermöglicht dem Arzt bei Komplikationen eine bessere Abgrenzung seiner
Verantwortlichkeit, denn er kann genau belegen, dass die Pflegekraft ihn
nicht über den Heilungsverlauf informiert hat, weil sie sich eventuell der
Gefährdung nicht bewusst war. Auf der anderen Seite bedeutet einen Aussage
über die Tendenz aber auch eine Absicherung für die Pflegekraft, da der
Arzt auf mehrere negative Tendenzbewertungen hingewiesen werden kann ohne
seine Therapieversuche an sich in Frage zu stellen. Ob dieser dann Handlungsbedarf
sieht oder nicht, bleibt sein Problem und muss von ihm selbst gerechtfertigt
werden.
Im Weiteren wollten wir
generelle Probleme des modernen Pflegealltages berücksichtigen:
- Der Zeitaufwand für
die Dokumentation im allgemeinen hat in den letzten Jahren deutlich
zugenommen, so dass die Wunddokumentation möglichst einfach ausgefüllt werden
sollte und dabei der Pflegekraft als Leitfaden für eine korrekte
Mindestdokumentation dienen sollte.
- Die Beobachtungen über
den Heilungsverlauf stehen direkt in Zusammenhang mit den eingeleiteten
Maßnahmen und angeordneten Präparaten und sollten daher auch auf einer eigenen
Dokumentation zusammengeführt werden. Kostformänderungen und eingeleitete
orale Antibiosen als Beispiel betreffen den Organismus im Ganzen und werden
natürlich weiterhin in der normalen Verlaufsdokumentation geführt
- Der Ruf nach Professionalisierung
der Pflegekräfte wird stetig lauter (v.a. in den Medien). Dem wollten wir
Rechnung tragen, indem wir direkt in die Dokumentation eine Einschätzung
(Tendenz) der Pflegekraft integrierten. Nicht nur die Einrichtung von Studiengängen
wird das Selbstbewusstsein der Pflegenden verbessern, sondern gerade die
ernst gemeinte Integration in das Stationsteam mit der offiziellen Übertragung
von Kompetenzen, die Pflegekräfte schon seit langem inne haben.
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